Der Schlager ist seit Jahrzehnten eines der Lieblings-Musik-Genres der Deutschen. Fast jeder kann – zumindest angeheitert – Lieder von Wolfgang Petry, Roberto Blanco und Andrea Berg mitsingen. Doch die Erforschung des Schlagers steckt noch in den Anfängen. Das soll sich jetzt ändern: Anfang Februar veranstaltete das „Zentrum für Populäre Kultur und Musik“ (ZPKM) die Tagung „Schlager erforschen – Kulturwissenschaftliche Perspektiven auf ein populäres Phänomen“.
Schlager als Forschungsobjekt
An zwei Tagen trugen Wissenschaftler aus ganz unterschiedlichen Fachgebieten Vorträge zu spannenden Themen vor. In einigen ging es um ideologische Aspekte im Schlager der DDR und in der Rechtrockszene. Auch Andreas Gabalier wurde als gleichzeitig verehrtes und kritisiertes Rollenvorbild für traditionelle, konservative Lebensentwürfe diskutiert. In weiteren Referaten und anschließenden Diskussionen ging es um Inszenierungen von Künstlern in Schlagerfilmen und auf Plattencovern, das feministische Potential von Helene Fischer, die Schwierigkeiten von Übersetzungen für den deutschen Schlagermarkt, die wirtschaftlichen Aspekte des Genres sowie verschiedene Möglichkeiten der Analyse von Schlagern, von der reinen Textanalyse über eine musikwissenschaftliche Herangehensweise bis zu neueren Ansätzen, den Sound des fertigen Songs als Ausgangspunkt zu verwenden.
Das Programm der Tagung ist hier einsehbar: http://www.zpkm.uni-freiburg.de/akt/schlagerworkshop-2020-flyer-web.pdf
ZPKM an der Universität Freiburg
Das ZPKM an der Universität Freiburg ist aus dem Deutschen Volksliedarchiv hervorgegangen und betreibt unter anderem die Webseiten Songlexikon.de sowie Liederlexikon.de. Vor einiger Zeit erschien der von Michael Fischer herausgegebene Band „Musik gehört dazu – Der österreichisch-deutsche Schlagerfilm 1950 – 1965“. Das ZPKM freut sich immer über Material zum Schlager, zum Beispiel Fanmaterial, Noten oder
Zeitschriften.
Interview über Schlagerforschung
Im Anschluss an die Tagung führte SchlagerPlanet-Redaktionsleiter Patrick Kollmer ein Interview mit den beiden Veranstaltern, Dr. Dr. Michael Fischer, dem Geschäftsführenden Direktor des ZPKM, und Dr. Johannes Müske, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am ZPKM.
SchlagerPlanet: Was macht das ZPKM?
Michael Fischer: Das ZPKM ist eine Forschungs- und Dokumentationseinrichtung der Universität Freiburg. Wir beschäftigen uns mit populärer Musik, mit Medien und fragen danach, wie Musik auf Menschen wirkt und warum Menschen, oft ganz spezielle Musikvorlieben haben.
SchlagerPlanet: Was macht man als Schlagerforscher?
Johannes Müske: Am Zentrum wollen wir untersuchen, wie Schlager von den Hörerinnen und Hörern wahrgenommen werden. Wir sprechen hierbei von Rezeption. Das ist noch weitgehend unerforscht. Wir fragen uns: Wie funktioniert Schlager in der Gesellschaft, bei welchen Anlässen wird die Musik gehört, gibt es Schlagerszenen? Natürlich untersuchen wir auch die Musikerinnen und Musiker, beispielsweise wie sie sich inszenieren. Heute hatten wir auf der Tagung auch verschiedene Beiträge zum Thema Sound.
Michael Fischer: Interessant ist der Unterschied zwischen der Wahrnehmung des Schlagers durch die Forschung einerseits und die Fans andererseits. In der Wissenschaft gibt es immer noch viele Vorbehalte gegen den Schlager, es existiert eine ganz lange Tradition von Vorurteilen. Seit den 1960er Jahren wird der Schlager als kommerzielles Massenprodukt abgelehnt, es wurde unterstellt, er manipuliere die Menschen. Die Hörerinnen und Hörer hingegen kümmert das nicht, sie begeistern sich für die Musik und für ihre Stars. Genau in diesem Feld bewegen wir uns, und wir wollen auch selbstkritisch fragen, warum gibt es bei uns Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen eher Vorbehalte und warum gibt es diese große Begeisterung bei den Fans?
SchlagerPlanet: Wie sind Sie persönlich auf das Thema Schlager gekommen?
Johannes Müske: Da ist natürlich zunächst mal die Liebe zur Musik, die wir auch als Forscher teilen. Wir am Zentrum für populäre Kultur und Musik glauben, dass jegliche Kultur interessant für die Forschung ist und es keine „doofe“ Musikstile gibt. Alle Musikformen, zumal so erfolgreiche wie der Schlager, sollten erforscht werden, denn was Menschen berührt und interessiert, sollte sich auch in der Forschung widerspiegeln. Es ist ja ein wenig paradox, dass der Schlager in all seinen Facetten, vom volkstümlichen Schlager bis zum Popschlager, im Alltag so präsent ist, die Forschung sich aber hier zurückhält.
Michael Fischer: Wir machen immer wieder die Erfahrung mit jungen Studierenden, die eigentlich nicht sehr schlageraffin sind: Alle kennen die Lieder von Udo Jürgens, und alle kennen Helene Fischer und ihre glanzvollen Auftritte. Das ist sehr spannend, dass man sich als junger Mensch einerseits vom Schlager distanziert, aber dann doch so viel Musik aus diesem Bereich kennt und vielleicht auch schätzt.
SchlagerPlanet: Welche Probleme gibt es bei der Erforschung von Schlagern?
Michael Fischer: Ein Problem sind sicher die langgehegten Vorurteile in der Wissenschaft selbst, die sich an den Namen Adorno knüpfen. In den 1950er Jahren, nach dem Zweiten Weltkrieg, gab es die sogenannte „Kritische Theorie“, welche die populäre Kultur kritisch bewertete. Es gab die Befürchtung, dass die Konsumkultur Menschen möglicherweise manipulativ beeinflussen könnte – und diese wieder in faschistisches Denken zurückfallen. Daher rühren die Vorurteile gegenüber den Massenkünsten, zunächst gegen den Schlager, später, seit den 1980er Jahren, auch gegen den volkstümlichen Schlager. Diese Sicht wirkt noch heute fort, was sich auch etwas auf die Wissenschaft auswirkt, die ja Teil der Gesellschaft ist.
Verführt der Schlager die Massen?
SchlagerPlanet: „Verführt“ der Schlager die Menschen?
Michael Fischer: Alle kulturellen Äußerungen auf dieser Welt können Menschen negativ beeinflussen, also kann dies natürlich auch der Schlager, oder die Schlagerindustrie. So wie es auch der Sport kann oder meinetwegen die Religion. Wenn man die These einer manipulativen Wirkung vertritt, muss man aber auch Belege bringen, worin die negative Wirkung denn liegt. Außerdem: Die Intention der Schlagermacher deckt sich nicht unbedingt mit der faktischen Rezeption. Menschen, die Schlager hören, sind ja souverän und können frei mit den Botschaften in den Texten umgehen. Bei Andreas Gabalier wird das sehr kontrovers diskutiert, seine Texte stehen dem Rechtspopulismus nahe, und das muss man sicherlich kritisch sehen. Andererseits wissen wir überhaupt nicht, wie die Hörerinnen und Hörer damit umgehen und ob sie die Inhalte teilen.
Johannes Müske: Die Aneignung von Musik ist ein ganz wichtiger Punkt. Dieses „Codieren“ einer Botschaft, wie man es in der klassischen Medienforschung sagt, kann eine völlig andere Bedeutung haben als das, was die Hörerinnen und Hörer für sich herausziehen, also decodieren. Da spielt ganz viel an persönlichem Wissen und erlerntem Geschmack hinein. Man darf auch nicht vergessen, dass Schlager der „leichten Muse“ zugehört, wie man früher sagte. Da geht es einfach darum, Spaß zu haben, da wird nicht alles abgrundtief hinterfragt. Für die Rezeption des Schlagers ist auch zentral, was die Leute dabei empfinden, welche Gefühle sie mit dem Schlager und den Stars verbinden. An solche persönlichen Vorlieben kommt die Forschung schwer heran, weil sich bestimmte Emotionen wie Begeisterung auch gar nicht versprachlichen lassen. Das hatten wir zum Schluss der Tagung ganz deutlich anhand der Hörbeispiele und der Diskussion festgestellt.
Michael Fischer: Forscherinnen und Forscher sind es ja auch gewohnt, Geschriebenes, also Texte zu interpretieren, so wird es oft auch beim Schlager gemacht. Aber der Schlager ist eingebettet in ein komplexes Setting: Ich gehe beispielsweise auf ein Konzert mit einer bestimmten Absicht, vielleicht möchte ich Party machen, tanzen, Freunde treffen oder mich an dem Star und der Show erfreuen, wie zum Beispiel an der Akrobatik von Helene Fischer. Da geht es nicht um die Texte und ihre Bedeutung, sondern um ein gemeinschaftliches Erlebnis.
SchlagerPlanet: Wie war für Sie die Tagung?
Johannes Müske: Ich bin angenehm überrascht und sehr zufrieden, wie es gelaufen ist. Wir haben uns Mühe in der Vorbereitung gegeben, aber man kann das Ergebnis nicht vorhersagen. Die Themenblöcke, etwa zum Schlagerfilm, zu den Musikstilen oder zu Gender-Inszenierungen haben sehr gut geklappt, und auch die Referierenden und Studierenden, die hier gerade rausgegangen sind, konnten etwas Schönes mitnehmen. Das waren jedenfalls die ersten Eindrücke, die mir gespiegelt wurden.
Michael Fischer: Mir hat es gut gefallen, dass alle Vortragenden sich dem Gegenstand mit Sympathie genähert haben, wenn auch nicht unkritisch. Also nicht umgekehrt: kritisch und ohne Sympathie. Das ist sehr wichtig für mich. Auch in der Wissenschaft darf es die Kategorien Vergnügen und Humor geben, man darf sich an den Forschungsgegenständen erfreuen. Die Schönheit des Populären ist schließlich auch ein Forschungsfeld. Das war auch auf dieser Tagung zu spüren.
SchlagerPlanet: Welche neuen Erkenntnisse haben Sie bei der Tagung gewonnen?
Johannes Müske: Neuartig war für mich die Sound-Dimension. Mir war aus meiner bisherigen Forschung klar, dass Sound eine entscheidende Wahrnehmungskategorie ist, aber wie welche Ebenen bei der Soundgestaltung eine Rolle spielen, das fand ich einen ganz tollen und neuartigen Forschungsansatz des Kollegen. (Anmerkung der Redaktion: Alan van Keeken beschrieb in seinem Vortrag „Der deutsche Schlager – Phonomusikologie als Zugang zum Sound eines ‚geschichtslosen‘ Genres“ die Soundanalyse des finalen Musik-Produkts als neuen Ansatz für die Musikforschung). Ich fand auch die Beiträge zum Schlagerfilm sehr interessant, da ging es in eine ganz ähnliche Richtung, nämlich die Verknüpfung von Sound, Bild, Handlung. Gleichzeitig spielt aber die Künstler-Figur und ihre Yellow-Press-Geschichten mit rein. Diese ganze Vermischung von Inszenierungen, Medialität und Alltagserfahrungen ist ein Punkt, von dem aus man in der Schlageforschung noch viel weiter gehen könnte.
Michael Fischer: Was uns vielleicht noch fehlt, ist der Blick auf und die Einbeziehung der Akteure. Das ist leider nicht ganz so einfach, die Interpretinnen und Interpreten, die Produzenten, die Instrumentalisten, alle die bei der Entstehung und Darbietung eine Rolle spielen, für eine Tagung zu gewinnen. An diese Personen kommt man schwer ran. Das ist sehr schade, weil sie über exklusives Wissen verfügen, das für das „Endprodukt“ Schlager essentiell ist. Dabei geht es mir nicht um eine konkrete Person, also einen Star, sondern eher um das Berufsfeld der Akteure, die das Sounddesign machen, der Background-Chor, Tänzer etc. Wenn wir an die großen Acts denken, sieht man ja schon an der Darbietung, dass da hundert Menschen daran beteiligt gewesen sein müssen, damit eine Show in dieser Qualität abgeliefert werden kann. Das sind natürlich alles Bausteine zu dem Produkt, zu dem Endergebnis Schlager. Es geht ja nicht nur die Interpreten, die im Rampenlicht steht, und die Musik.
Die Macher im Hintergrund
SchlagerPlanet: Was macht es so schwer, an diese Leute heran zu kommen?
Michael Fischer: Vielleicht gibt es bei den Akteuren eine gewisse Abstinenz gegenüber der Wissenschaft. Aber auch wir als Forscherinnen und Forscher müssen hier aktiver „rausgehen“. Wir beobachten das auf vielen Gebieten. Das ist sehr schade! Ich kann es mir nicht genau erklären, ob es da eine Scheu gibt, ob man das Berufliche, das Knowhow, nicht so preisgeben will.
SchlagerPlanet: So wie die Zauberer, die ihre Tricks nicht verraten wollen?
Michael Fischer: Ja, Musikshows sind Teil der Unterhaltungskunst, selbstverständlich gibt es da technisches und handwerkliches Wissen, über das man verfügt und das man nicht ohne Weiteres preisgeben will.
SchlagerPlanet: Was würden Sie sich von der Schlagerforschung in der Zukunft wünschen?
Johannes Müske: Wir haben versucht, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus unterschiedlichen Disziplinen zusammen zu bringen, das wollen wir am Zentrum für Populäre Kultur und Musik weiterverfolgen. Natürlich wäre es schön, wenn die thematische Breite noch größer wird. Noch steht ja die ernsthafte Beschäftigung mit dem Thema ein bisschen unter Rechtfertigungsdruck: Ist Schlagerforschung überhaupt notwendig? Hier wollen wir eine Entwicklung anschieben, um diesen Bereich unserer Musikkultur stärker in den Fokus der Forschung zu rücken.
Michael Fischer: Aus meiner Sicht wäre, wie schon angedeutet, die Einbeziehung der im weitesten Sinne Produzenten des Produkts Schlager wichtig, also alle, die dieses Produkt herstellen. Aber genauso wichtig sind die Vermittlungsinstanzen, wie zum Beispiel SchlagerPlanet.com, Zeitschriften, Zeitungen, Feuilletons, Fanseiten im Internet etc. Aus dem Bereich der Pädagogik wären Beiträge denkbar, es wird auch in der Medizin und Psychiatrie mit Musik gearbeitet, zum Beispiel in der Geriatrie. Schlager dienen dort als Erinnerungsanker, das ist ein spannendes Feld. Da sehen wir also noch viele Möglichkeiten, wie man das Genre aus der Wissenschaft heraus beleuchten kann.
SchlagerPlanet: Was macht Schlager so besonders, so einzigartig?
Johannes Müske: Gibt es etwas daran, was einzigartig ist? Es gibt so viele musikalische Genres, die alle ihre Besonderheiten haben. Es ist ein Genre, das immer wieder neue Stile für sich entdeckt und immer auf der Höhe der Zeit ist. Das macht auch diesen langanhaltenden Erfolg dieses Genres aus.
Michael Fischer: In der Wissenschaft wird zur Zeit viel über Techno, über HipHop geforscht, weil damit ein subkulturelles Milieu, eine Szene und entsprechende Attitüde verbunden wird. Der Schlager gilt eher als affirmativ, die Gesellschaft bestätigend. Das ist für uns aber genau der Punkt, wo man unserer Meinung nach ansetzen muss, denn die Relevanz des Schlagers für die Menschen, die Breite und Tiefe der Rezeption, ist doch mit Händen zu greifen. Forschung sollte sich mit Dingen beschäftigen, die in unserer Gesellschaft eine Rolle spielen, und da, glaube ich, ist der Schlager ein nach wie vor ein unterschätztes und zu wenig beleuchtetes Musikgenre.
SchlagerPlanet: Haben Sie einen Lieblingsschlager?
Michael Fischer: Nein, da muss ich passen. Wir forschen zu ganz vielen Dingen der Musik, vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Eine ganz wichtige innere Haltung ist für mich, dass man weder aus einer Fan-Perspektive noch aus einer persönlichen Abneigung heraus arbeitet, man sollte seine privaten Musikvorlieben und das, was man gerade erforscht, gut auseinander halten. Aber ein Beispiel: Bei Helene Fischer ist es gar nicht so sehr die Musik, die mich fasziniert, sondern diese unglaubliche Bühnenpräsenz, diese Artistik, dieses Können und diese Diszipliniertheit, das finde ich ganz großartig, was da als Show abgeliefert wird.
Johannes Müske: Dem schließe ich mich an. Natürlich gibt es auch Songs, die man mag. Es gibt tolle Klassiker von Roy Black, Marianne Rosenberg oder Udo Jürgens, das ist einfach fantastische Musik, die in anderen Sprachen vielleicht gar nicht so ein Label aufgedrückt bekommen hätte, wie es mit dem deutschen Schlagerbegriff der Fall ist.
SchlagerPlanet: Vielen Dank für die Einladung zur Tagung und das Gespräch!