Ein Leben mit Behinderung im Showgeschäft
Fast zehn Prozent der deutschen Bevölkerung gelten laut statistischem Bundesamt als schwerbehindert – das sind über 7,5 Millionen Menschen. Dieser Anteil spiegelt sich in der Medienwelt jedoch nicht wider.
In der glitzernden Welt der deutschen Musik- und Medienbranche wirken Menschen mit Behinderung wie eine Randerscheinung. Corinna May nahm 2002 am „ESC“ teil. Joana Zimmer erreichte mit „I believe (Give a little bit...)“ 2005 beinahe die Chartspitze. Die ehemalige „DSDS“-Teilnehmerin Anna-Maria Zimmermann erlitt 2010 einen schweren Unfall, hat seitdem einen gelähmten Arm und ist heute eine Größe in der Schlagerwelt. Und Bassbariton Thomas Quasthoff erhielt unzählige Auszeichnungen für seine Gesangskünste. Dies sind vier, der wenigen Beispiele von Musikern mit körperlichen Behinderungen, die einen Platz in der Medienwelt gefunden haben. Dabei lebt fast jeder zehnte Mensch in Deutschland mit einer Schwerbehinderung körperlicher, geistiger oder seelischer Art. Aufgrund des demografischen Wandels hin zu einer älteren Gesellschaft ist die Tendenz außerdem steigend, denn circa 74 Prozent der Betroffenen sind über 55 Jahre alt. Menschen mit Behinderung stellen zwar noch immer eine Minderheit in der Bevölkerung dar, allerdings die Größte. Dies spiegelt sich in TV und Medien nicht wider.
Raúl Aguayo-Krauthausen: „Dachdecker wollte ich eh nicht werden“
Das bedauert auch Raúl Aguayo-Krauthausen. Er beschreibt sich selber als Aktivist für Inklusion und Barrierefreiheit. Der Wahlberliner lebt mit der Krankheit Osteogenesis Imperfecta (Glasknochen) und ist zudem Autor des Buches „Dachdecker wollte ich eh nicht werden. Das Leben aus Rollstuhlperspektive“.
In einem Interview mit dem Magazin „Pressesprecher“ beschreibt er im Oktober 2014 die Beobachtung, „dass Menschen mit Behinderung in den deutschen Medien oft entweder als Helden dargestellt werden, die tapfer ihr Schicksal meistern und durch paralympischen Sport ihre Behinderung angeblich überwinden oder eben als Opfer: an den Rollstuhl gefesselte Menschen, die an ihrer Behinderung leiden. Und wir sind fest davon überzeugt, dass die Wahrheit wahrscheinlich irgendwo in der Mitte liegt und, dass Menschen mit Behinderung ihre Behinderung sicher auch mal als Problem empfinden, aber die wenigsten gehen weinend ins Bett und wachen weinend auf, weil sie eine Behinderung haben. Und viele erleben ihre Behinderung als eine Eigenschaft von vielen und nicht als die alles prägende.“
Ein Mensch definiert sich nicht durch seine Behinderung
Corinna May und Joana Zimmer leben beide schon von Geburt an mit ihrer Sehbehinderung. In der medialen Darstellung wird dieser Aspekt in der Regel als zentrales Merkmal herausgestellt. Schon häufig hat Corinna May in Interviews ausgesprochen, dass sie vor allem als Sängerin wahrgenommen werden möchte. Sie definiert sich nicht über ihre Krankheit. Warum sollte eine Sängerin auch zunächst nach ihren Augen bewertet werden. Dass die Musikindustrie dies scheinbar nicht tut, erwähnte Joana Zimmer 2012 in einem Interview mit „Rollingplanet.com“. Sie habe sehr schnell gemerkt, dass sie keine Sonderbehandlung bekomme, berichtete sie dort. Plattenfirmen seien Konzerne, denen es um Gewinnmaximierung gehe. Da sei egal, ob das „Produkt“ sehen könne oder nicht. Was ihr Leben von dem einer sehenden Person unterscheidet, beschreibt Joana Zimmer in ihrem Buch „Blind Date. Die Welt mit meinen Augen sehen.“
Anna-Maria Zimmermann: Es ist nicht immer leicht
Natürlich ist eine Behinderung nicht immer leicht wegzustecken, vielleicht umso mehr, wenn sie erst später im Leben eintritt und der Betroffene das „Leben vorher“ kannte. Dann noch in der Öffentlichkeit zu stehen und von Medien als ein Opfer präsentiert zu werden, erleichtert die Akzeptanz nicht. Auch Anna-Maria Zimmermann haderte nach ihrem Unfall mit ihrem Schicksal, lernte aber, damit umzugehen:
„Irgendwann habe ich dann gesagt, ganz ehrlich, meine Familie, mein Mann, alle sind so happy und so dankbar, dass es mich noch gibt und dass ich das geschafft habe und Du bist hier voll die Oberzicke und bist schlecht drauf und haderst da mit Deinem Leben. Das geht einfach nicht. Du musst jetzt verdammt nochmal dankbar sein, dass das so geendet ist. Mein Freund Christian sagt immer: ‚Anna, ganz ehrlich, es ist nur der Arm. Du kannst singen, Du kannst laufen, Du kannst Sport machen, Du kannst Deinen Job ausüben, Du kannst alles machen – es ist nur der Arm‘.“
Und genau das ist es, was es bedeutet nicht für seine Behinderung wahrgenommen zu werden, sondern für all die menschlichen Eigenschaften, die den individuellen Charakter der Person – egal ob behindert oder gesund – ausmachen und so einzigartig werden lassen.
Samuel Koch: „Zwei Leben“
Als sich Samuel Kochs Leben drastisch veränderte, sahen Millionen Zuschauer vor ihren Fernsehern zu. Nach seinem Unfall bei „Wetten, dass...?!“ war der ehemalige Geräteturner querschnittsgelähmt. Er lernte mit der veränderten Situation zu leben und verfolgte neue Ziele. Nach einem Schauspielstudium gehört Samuel Koch heute zum Ensemble des Staatstheaters Darmstadt und hat mehrere TV- und Sprechrollen ergattert. Durch seinen beachtlichen Lebensweg, ist er sowohl für die Opfer- als auch für die Heldenrolle in der medialen Darstellung prädestiniert. Letztendlich hat er aber einfach gelernt, mit der neuen Lebenssituation umzugehen. Seine Entwicklung beschreibt Samuel Koch in dem Buch „Zwei Leben“. Und ähnlich wie Raúl Aguero-Krauthausen setzt er sich für Menschen in vergleichbaren Situationen ein. Samuel Koch unterstützt unter anderem die „Deutsche Stiftung Querschnittlähmung“ und die internationale Rückenmarksforschung „wings for life“ sowie einen inklusiven Betrieb als Schirmherr.