So etwas hat es beim deutschen Vorentscheid für den „Eurovision Song Contest“ noch nicht gegeben. Andreas Kümmert tritt mit der Devise an, seine Musik auch auf einem internationalen Markt darzubieten und doch, als sich die Möglichkeit erschließt, lehnt er ab. Er fühle sich nicht in der Lage bei diesem Wettbewerb anzutreten und sei nur ein „kleiner Musiker“. Das sah das Publikum mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit anders. Durch den gesamten Wettbewerb hindurch trug ihn der Applaus wie eine immer wieder neu aufbäumende Welle. Kein Wunder also, dass Barbara Schöneberger die Entscheidung als „Koitus interruptus“ der schlimmsten Art bezeichnete.
Doch an der Entscheidung hielt Andreas Kümmert fest wie der Deutsche an der Groß-und-Kleinschreibung. Überredungsversuche, Buh-Rufe, Aufruhr – alles beeindruckte den Unterfranken nicht, der in seiner stoischen Art fast unheimlich wirkte. Schon den ganzen Abend war er von der Bühne gehuscht, blickte keiner Kamera ins Auge und reagierte verlegen auf den Szenenapplaus, der die anderen Kandidaten wie arme Kirchenbuben wirken ließ. Doch mit dieser konsequenten Entscheidung hatte keiner gerechnet. Entrüstung beim Publikum. Ratlosigkeit bei Barbara Schöneberger. Fassungslosigkeit bei Ann Sophie. Sie wird nun statt dem eigentlichen Gewinner nach Wien reisen. Völlig überrumpelt performte Ann Sophie ihren Song, ohne Siegestaumel, Tränen und mit gespaltenem Zuspruch des Publikums.
Spendierhosen statt Sweatshirtjacke
Über drei Entscheidungsstufen wurde am gestrigen Abend der Gewinner gewählt. Aus acht wurden vier und aus vier letztendlich zwei. Voting-Anrufe bestimmten das Weiterkommen der einzelnen Kandidaten. Wer seinen Liebling eine Runde weitersehen wollte, musste wie üblich blechen. Die Andreas Kümmert Fans hatten wohl die Spendierhosen an. Dieser finanzielle Einsatz für den „The Voice“-Gewinner scheint jedoch umsonst gewesen zu sein. „Ich bin überwältigt von Euch allen!“, hieß es und im Kopf sah schon so mancher einen triumphierenden Unterfranken mit Tränen in den Augen den Finalsong „Heart of Stone“ performen. Doch Pustekuchen, so mancher könnte ihm selbiges, ein Herz aus Stein, unterstellen, denn alles flehen und bejubeln blieb zwecklos: Die mit kostenverbundenen Anrufe hätte man sich für drei Entscheidungsstufen hinweg schlichtweg sparen können.
Was wäre wenn…
Bei so manchem Vorentscheid-Teilnehmer erscheint sicherlich momentan die beliebte Frage „was wäre wenn…?“. Durchaus nachvollziehbar: Es erweckte den Anschein, dass Andreas Kümmerts Entscheidung nicht spontan gefallen sei, auch wenn seine Plattenfirma gegenüber BILD bekräftigte, dass sie nichts geahnt hatten. Warum diese fundierte Entscheidung erst nach drei Entscheidungsetappen kommunizieren, nachdem er schon sieben Kandidaten ins „ESC“-Aus geschossen hatte? Wer hätte im Finale gestanden, wenn Andreas Kümmert von Anfang ehrlich zu seinen Sponsoren gewesen wäre? Durch ein Frauenpower-Finale mit Alexa Feser und Ann Sophie wäre vermutlich ein ganz anderes Kräftegleichgewicht entstanden. Es ist anzuzweifeln, ob es sich nun noch um ein valides Ergebnis handelt. Wer weiß, vielleicht führen nach weiterer Abstimmung die sportliche Combo Laing oder gar die Naturburschen Fahrenhaidt nach Wien.
Die große Bühne ist zuwider
Es war ohnehin ein Gänsehautmoment, als Barbara Schöneberger den Gewinner von „Unser Song für Österreich“ verkündete, der aber einen unerwarteten Schliff erfuhr. „Ann Sophie ist geeigneter“, sprach Andreas Kümmert bestimmt. Dennoch würde ihm, obgleich diese Aussage etwas entrückt und für manche gar absurd klingt, der ein oder andere gerade deswegen ein besonderes Selbstbewusstsein unterstellen. Es fordert Mut vor so vielen Menschen einen Standpunkt zu vertreten, der auf massig Gegenwind stoßen könnte. Buh-Rufe breiteten sich aus und schon bald huschte der 28-Jährige so klammheimlich von der Bühne, wie er es zuvor auch bei seinem übermannendem Applaus getan hatte. Vielleicht gehört dieser Mut geehrt, doch diese Entscheidung hätte bereits im Halbfinale oder gar vor dem Vorentscheid kommuniziert werden können.
Ähnlicher Rückzug bei „The Voice“
Eine Person, die sich zu einer Sache nicht imstande fühlt, sollte zu dieser auch nicht gezwungen werden. Vermutlich hat Andreas Kümmert für seinen ungewöhnlichen Abtritt einen guten Grund, über mögliche gesundheitliche Probleme wird gemunkelt. Einen ähnlichen Auftritt handelte sich der Unterfranke bei „The Voice“ ein. Auch hinter seiner Teilnahme bei dieser Castingshow steht der Mann mit der Soulstimme schon lange nicht mehr. „Da wäre ich lieber in den kleinen Clubs Dreck fressen gegangen. Da fühle ich mich eh wohler als auf der großen Bühne,“ sagte die Ausnahmestimme dem EXPRESS. Dennoch zog es ihn wiederum auf die große Bühne und als Sieger von „Unser Song für Österreich“ hätte er sich noch größeren Massen stellen müssen. So steht die Frage im Raum, warum er sich überhaupt beworben hatte. Um nochmal sein Gesicht in der Öffentlichkeit zu zeigen und einen PR-Gag zu konstruieren?
Vergiftetes Geschenk für Ann Sophie
Unter seinem Abgang litt jedoch mehr als Barbara Schöneberger, die überraschend perplex erschien, Ann Sophie, diejenige, die nun an Kümmerts statt nach Wien reisen soll. Andreas Kümmert überreichte ihr mit seinem Rückschritt scheinbar ein Geschenk. Jedoch ein Geschenk, das eigentlich keiner haben möchte. Die Hamburgerin reist nach Wien, jedoch ohne Gewinnersong und ohne Siegestränen. Verunsichert fragte sie „Wollt ihr das überhaupt?“ Doch Barbara Schöneberger ließ gar keine Antwort zu und Ann Sophie wurde auf die Bühne gescheucht um den Ersatz-Siegersong „Black Smoke“ zu performen. Auf diesem Wege will wohl keiner sich für die große „ESC“-Show im Mai qualifizieren.
Schon den ganzen Abend schien es eindeutig: Die Zuschauer wollen Andreas Kümmert auf der „ESC“-Bühne sehen. Seine Entscheidung, die schon lange festgestanden zu haben scheint, stieß Hunderttausende Anrufer vor den Kopf. Dass es sich um ein abgekartetes Spiel handelt, wurde bereits kurz nach seinem Rücktritt gemunkelt. Hätte man sonst seine Entscheidung so leichtfertig hingenommen? Oder war es lediglich ein Spielchen des Sängers, um noch ein bisschen „ESC“-Publicity aufzufangen, ohne Negativschlagzeilen bei einem möglichen Scheitern zu riskieren. Seine Absage nach drei Entscheidungsschritten geht jedoch auf Kosten seiner eigenen Fans, seiner Konkurrentin Ann Sophie und nun auch auf Kosten seines eigenen Images.